Der neue Nachbar im Haus gegenüber ist ein seltsamer Typ. Ich weiß gar nicht, ob er wirklich ein Nachbar ist. Es ist schon ein paar Monate her, dass er die Wohnung bezogen hat. Doch mit „Wohnen“ hat das, war er da tut, nicht viel zu tun. Er hat einen Schreibtisch aufgebaut im kleineren der beiden Zimmer. An dem sitzt er fast Tag und Nacht. Zwei Stühle hat er auf den Balkon gestellt und eine silbern glänzende Dekokugel in die eine Ecke, zwei Zimmerpflanzen in die andere. Ab und zu sitzt er in seiner fliederfarbenen Jogginghose auf einem der beiden Stühle. Das Klebeband, das die Maler im Frühjahr an den Fassaden rund um die Balkontür vergessen haben, flattert immer noch im Wind.
Er scheint kaum Besitztümer zu haben, keine Dinge, die er in die Wohnung tragen und auch keine Freunde oder Bekannten, die er zu sich einladen würde. Er hat keine Vorhänge, deshalb sah ich gestern Abend, als es schon dunklel, doch seine Wohnung noch hell erleuchtet war, unwillkürlich herüber, als er gerade durch den Flur lief, mit freiem Oberkörper. An seinem Rücken klebten leuchtend blaue Bandage-Tapes. Dieser Anblick verstärkte mich in meiner – natürlich wahrscheinlich vollkommen absurden – Vorstellung, er sei Geheimagent. Oder Hacker.
Als ich heute Morgen durch den kleinen Park laufe, sitzt auf der Hängematte zwischen den Bäumen ein Mann in schwarzem T-Shirt und Military-Hosen. Er trägt einen Rucksack und hält ein Ding in der Hand, das für ein Smartphone zu klobig ist und auch nicht aussieht wie ein gewöhnliches altes Mobiltelefon. Kurz meine ich, es könnte der Nachbar sein, jetzt in Aktion. Er hat einen Auftrag erhalten und bereitet sich auf die Observierung vor.
Doch als ich nach dem Spaziergang in meine Straße einbiege, treten gerade zwei Männer aus der Tür des Nebenhauses. Auch wenn ich ihn noch nie von Nahem gesehen habe, bin ich sicher, dass der hintere von ihnen der Nachbar ist – sehr groß, kurzhaarig und ohne Geschmack gekleidet. Ein kleiner Rucksack auf dem Rücken und in der Hand ein roter Rollkoffer. Er steigt in das Auto, das dort wartet, und verschwindet. Die Wohnung wird nun wieder über Tage oder Wochen dunkel bleiben.